Auf dem Weg zur Analyse

Eine andere Formulierung

Ich möchte hier eine Variante des Paradoxons vorstellen, die etwas besser für die Analyse der Logik des Gefangenen geeignet ist:

Es gibt mehrere kleine durchnummerierte Kisten. In einer von ihnen versteckt R. heimlich von G. einen Tennisball. R. sagt zu G.: "Du wirst nicht wissen, ob der Ball in der Kiste liegt, bevor du sie nicht geöffnet hast". Dass der Ball in einer der Kisten liegt, ist gewährleistet unabhängig von der Aussage des R. (z.B., die Kisten stehen alle auf einer Waage). Danach öffnet G. die Kisten in der Reihenfolge der Nummerierung.

Diese Variante hat aus meiner Sicht folgende Vorteile:

1. Es gibt nur eine einfache Aussage statt 2 konjugierten.
2. Diese Variante ist weniger belastet von der Unvorhersagbarkeit der Zukunft.
3. Man kann (gedanklich) die Teilnehmer nach dem Test die Ergebnisse besprechen lassen und man kann (gedanklich) den Test mehrmals wiederholen.

Warum ich damit angefangen habe

Einige Jahre habe ich mich mit folgenden Lösungen abgefunden:

Auch vor dem letzten Tag kann der Gefangene nicht wissen, dass er morgen hingerichtet wird, weil solcher Schluss der Aussage widerspricht, aus der er gezogen wurde. Im Kopf des Gefangenen entsteht eine selbstbezogene (über sein Wissen) Aussage mit einem inneren Widerspruch. Für alle Andere enthält das Urteil keinen Widerspruch: Gibt der Gefangene auf oder kommt er zu einem (falschen) Ergebnis, wird das Urteil bestätigt werden.

Und - man kann den Wahrheitsgehalt des Urteils in Frage stellen, schließlich geht es um die Zukunft, und sie ist nicht vorhersagbar. Dann sind keine Schlüsse möglich (und das Urteil erweist sich wieder als korrekt).

Nur Ende 2007 kam ich auf den folgenden Gedanken: Wenn der Gefangene am Freitagabend nicht wissen kann, dass er morgen hingerichtet wird, muss er also auf eine Begnadigung hoffen. Dabei ist allen Anderen klar, was passieren wird: Die Hinrichtung erfolgt morgen.

Könnte sich der Gefangene doch sagen: "Gut, aus diesem Urteil kann ich kein Wissen gewinnen. Jedoch ist es für den Richter eine Ehrenssache, dass jedes sein Urteil genau erfüllt wird. Jetzt ist ihm dazu nur noch die einzige Möglichkeit geblieben, mich morgen hinrichten zu lassen - mit der Zuversicht, dass ich aus dem Urteil zu diesem Wissen nicht kommen kann." Damit käme er zum Wissen, was ihm vom Urteil verboten wurde.

Ist damit der Widerspruch des letzten Tages aufgehoben? Meine Antwort heute ist - nein, weil der Gefangene sich mit dieser Schlussfolgerung außerhalb der reinen Logik bewegt. Jedoch damals gab mir diese Idee den Anstoß, die weitere Logik des Paradoxon genauer zu analysieren - die Logik, mit der ein Tag nach dem anderen ausgeschlossen wird. Andererseits war ich von diesem Gedanke auf weite Umwege geleitet, weil man eigentlich mit dem Widerspruch des letzten Tages schon ziemlich nahe an der endgültigen Lösung war.

Erste Idee: Was ist "Wissen"?

Vielleicht kommt das Paradoxon zustande, weil das "Wissen" nicht genau definiert ist? Darf der Gefangene jeden Morgen verkünden: "Heute werde ich hingerichtet"? Solches "mehrmaliges Wissen" widerspricht nicht der Paradoxon-Logik, das Urteil erwiest sich dabei als vornherein falsch und das Paradoxon verwandelt sich zu einer simplen Bestätigung dieser Konstellation.

Könnte diese Bindung an dem "mehrmaligen Wissen" noch enger sein, so dass die Paradoxon-Logik nur für so verstandenes Wissen gilt? Folgender Gedanken-Experiment verhärtet diesen Verdacht.

Wir führen einen Test mit der Kisten-Ball-Variante durch, und zwar mit 2 Kisten.

G. steht also vor den beiden Kisten und überlegt: "Hätte R. den Ball in die letzte Kiste gelegt, wurde ich es nach dem Öffnen der 1.Kiste wissen - also müsste der Ball in der 1.Kiste liegen". (Die Vollständigkeit seiner Logik wollen wir hier nicht bewerten.) Er sagt also: "Ich weiß - der Ball liegt in der Kiste 1". Er öffnet sie, sie ist aber leer, der Ball befindet sich in der Kiste 2. Nach dem Test sagt G., er wusste, dass der Ball in der 2.Kiste lag noch bevor er sie geöffnet hatte und damit soll die Aussage von R. falsch gewesen sein. Er hat Recht, dass er es wusste, und genau auf diesem Wissen basiert die Logik des Paradoxon. Jedoch würden wir ihm Recht geben, würden wir dadurch auch "mehrfaches Wissen" zulassen.

Wie sollte das Wissen definiert sein, um solche Deutung auszuschließen?

Die zusätzliche Bedingung, G. darf nur einmal "wissen", reicht nicht aus - da hätte G. mit einer Zufallswahl immer noch eine Chance 1/7 (oder besser), den Tag zu erraten. Und das hätte ja nichts mit Wissen zu tun. Die sichere Bedingung wäre: G. muss seine Aussage vor einem unabhängigen Experten-Gremium (Jury) verteidigen, welches dann entscheiden muss, ob es Wissen war oder nur ein Rate-Versuch.

Mit solcher Bedingung hätte G. schon bei 2 Kisten keine Gewinn-Chancen. In der Tat, würde es eine logische Begründung seiner Entscheidung für eine bestimmte Kiste geben, könnte sie auch für R. kein Geheimnis sein, weil Logik kein Geheimwissen ist. Jedoch könne seitens R. jeder solcher Schluss widerlegt werden, indem er einfach den Ball in eine andere Kiste steckt.

Meine heutige Schätzung dieser Idee(n): War alles nicht schlecht, aber etwas der Sache vorbei. Die Formulierung des Paradoxon erwartet vom Gefangenen keine öffentliche Aussage, es geht lediglich um sein "inneres" Wissen. Schade. Eigentlich bin ich an die Analyse gegangen mit der Hoffnung zu beweisen, dass das Urteil in sich falsch ist.

Ist die Aussage des Richters falsch?

Nein, sie ist es nicht. Weil der Beweis aus dem vorherigen Punkt in Frage steht, möchte ich hier einen anderen geben. Ich will also beweisen, dass (mit intuitiv verstandenem Wissen) der Gefangene keine Chancen hat und der Richter mit seiner Aussage Recht hat.

Nehmen wir an, der Richter wird mit der Logik des Gefangenen konfrontiert - und er findet eine Antwort. Seine Erklärung lautet, dass er den Tag der Hinrichtung per Zufallsgenerator bestimmen wird. Der Zufallsgenerator ist so eingerichtet, dass der Tag 1 mit einer Wahrscheinlichkeit 90% gewählt wird, der Tag 2 - mit 9% und so weiter - jeder nächste Tag mit einer 10-fach niedriger Wahrscheinlichkeit, und am Ende: Tag 7 mit 0,0001 %.

Solches Verfahren wurde dem logischen Aufbau des Paradoxa den Boden entziehen. Der Gefangene kann keinen Tag ausschließen, weil auch der letzte Tag zugelassen ist. Leider wird damit der Richter nur mit Wahrscheinlichkeit 99,9999% Recht bekommen - also wäre seine Aussage nicht immer haltbar, also wäre sie falsch.

Wir machen jedoch noch 2 weitere logische Schritte:

  1. Der Richter braucht ja in Wirklichkeit keine Erklärung dieser Art abgeben. Wenn er das nicht tut, kann das seine Position nur verbessern und die des Gefangenen - nur abschwächen.
  2. Durch eine vergrößerte Abstufung der Wahrscheinlichkeiten (von einem Tag zum Anderen) kann die Wahrscheinlichkeit für den Richter, Recht zu haben, beliebig dicht an die 1 gebracht werden. Dass führt zum Schluss, dass beim Ausfallen der Erklärung diese Wahrscheinlichkeit als 1 bewertet werden muss.
Wie kann sich die Position des Richters verbessern, wenn er sich die Erklärung erspart? Er könnte z.B. denselben Zufallsgenerator benutzen, aber wenn der letzte Tag ausfällt, den gesamten Vorgang noch mal starten. Das könnte wieder die Tür für die Paradoxon-Logik öffnen - wurde der Gefangene wissen, dass der Richter den letzten Tag ausschließt. Nur genau dieses Wissen fehlt ihm.

Natürlich sind hier die 7 Tage kein unerlässliches Merkmal. Es ist leicht zu sehen, dass das Prinzip bis auf 2 Tage anwendbar bleibt.

Lösung, Teil 1 - der erste Schritt.

Betrachten wir noch mal das Experiment mit 2 Kisten aus dem Punkt 4. Für das Paradoxon in der Originalform wurde das dem letzten Tag entsprechen.

G. überlegt: "Hätte R. den Ball in die letzte Kiste gelegt, wurde ich das nach dem Öffnen der 1. Kiste wissen - also wenn R. recht haben will, müsste er den Ball in die 1. Kiste gelegt haben". (ich: Richtig.) Also weiß er jetzt, dass der Ball in der 1.Kiste liegt. (Ich: Erstmal richtig). Nur - solches Wissen widerspricht der Aussage von R.. Aus diesem Widerspruch folgt (erstmal), dass die Aussage von R. falsch ist - der erste, in sich richtiger, Schluss war ja auf der Annahme aufgebaut, dass diese Aussage wahr ist ("wenn R. recht haben will"). Und wenn seine Aussage falsch ist, könnte der Ball auch in der letzten Kiste liegen.

Jetzt der letzte logische Schritt. Ist die Aussage von R. jedoch falsch, so hat G. keinen Grund für welche Schlussfolgerungen und kann auch nichts im Voraus wissen. Also bekommt R. mit seiner Aussage wiederum Recht.

Hier haben wir ein Paradoxon in klarer Erscheinung bekommen! Ähnlich wie im Paradoxon des Lügners hat hier G. mit einer Aussage zu tun, die er nicht beurteilen kann.

Widerspricht dieses Ergebnis nicht dem vorherigen Punkt? Nein. Hier soll man unsere Position von der des G. unterscheiden. Die Aussage ist an G. gerichtet, womit er einen Sonderstandpunkt bekommt. Für den Anderen behält der Richter Recht - gerade wegen der Schwierigkeiten des Gefangenen. Solcher Zusammenhang kann auch extra rekonstruiert werden. Hier z.B. eine Variante vom "Paradoxon des Lügners": "Ich sage zu X: "Diesen Satz werden Sie nicht als wahr bewerten können"". Der X kann keine Bewertung abgeben, damit bekommt die Aussage für jeden Anderen Recht - ganz ähnlich unserem Paradoxon mit 2 Kisten.

Also was wir bisher in dem Paradoxon aufgefunden haben, ist nichts Außergewöhnliches.

Lösung, Teil 2 - jeder weiterer Schritt.

Außergewöhnlich kommt mit den weiteren Schritten. Damit steht das Paradoxon so ziemlich einsam und es lässt sich wohl kaum etwas Ähnliches zu konstruieren.

Ich möchte hier einen der weiteren Schritte genauer betrachten. Nehmen wir an, G. ist jetzt bei der Kiste k und in den vorherigen Schritten hat er ausgeschlossen, dass der Ball in den weiteren n - k letzten Kisten liegen kann. Erstmal egal, ob es da richtig lief - uns interessiert nur der aktuelle Schritt. Seine Überlegungen:
  1. Angenommen, die vorher geöffneten Kisten waren leer. Dann müsste er in dieser Kiste liegen, weil die weiteren schon ausgeschlossen sind.
  2. Also wurde ich wissen, dass der Ball in der Kiste k liegt.
  3. Das widerspricht aber der Aussage von R., wir haben jedoch angenommen, dass sie wahr ist.
  4. Also darf der Ball nicht in der Kiste k liegen. Sie ist damit auch ausgeschlossen.
Wie wir jetzt wissen, stimmt es mit dem Punkt 2 nicht: Er wurde es nicht wissen. Der Fehler, den G. hier macht, ist der folgende: Er hat bisher schon 2 Annahmen gemacht:
  1. Die Aussage von R. ist wahr.
  2. Der Ball liegt in der Kiste k.
Aus dem Widerspruch zieht er, dass die Annahme 2 falsch ist. Jedoch wäre er wirklich bis zu der Kiste k gekommen, hätte er keine andere Wahl, als die Annahme 1 als falsch zu bewerten, wie wir es in dem Fall mit 2 Kisten sehen könnten.

Also könnte G. im jeden Schritt (außer des Ersten - in der Kisten-Variante) den Widerspruch entdecken, er merkt es jedoch nicht und wiederholt denselben Fehler mehrmals. Damit kommt dieser eigenartige Effekt zustande, dass aus einer scheinbar harmlosen Behauptung ein Ergebnis entsteht, dass der Leser mit einem wachsendem inneren Widerstand schon ahnt, aber zu dem er mit unerbittlichen Logik (!?) Schritt für Schritt gedrängt wird. Ich glaube, von diesem Erlebnis hat sich schon jeder betroffen gefüllt.

Noch ein Fehler?

Ich finde, das Paradoxon ist somit geklärt.

Es könnte aber noch ein Fehler in diesem Gewebe stecken. Ich meine damit die wiederholte Benutzung der anfänglichen Annahme.

Wie wird normalerweise eine neue Aussage analysiert (z.B. bei einem "reductio ad absurdum")? Ich möchte es mal bildlich - aber etwas abstrakt - wie folgt darstellen:

Wir haben eine Behauptung, sie kann falsch oder wahr sein. Wir können aus jeder dieser beiden Vermutungen Folgen ziehen, sozusagen, 2 Zweige wachsen lassen. Wenn wir in einem Zweig einen Widerspruch finden, ist die im Ursprung gelegte Vermutung falsch und wahr ist also die andere.

Die zu analysierende Vermutung wird aber nicht noch mal verwendet - sonst würde eine neue Verzweigung in diesem logischen Baum entstehen. In unserem Paradoxon wird jedoch immer wieder die ursprüngliche Vermutung einbezogen und mit ihrer Hilfe jedes Mal ein neu entstandener Zweig abgehackt. Hier hätten wir nicht 2 Zweige mit einem wahren, sondern k (Kisten) bzw. t + 1 (t = Tagen).

Meine Frage ist: Darf eine Vermutung mehrmals zu logischen Entscheidungen in einer Schlussfolgerung benutzt werden?

Ich glaube, wenn ein Platz für eine zweite Verwendung derselben, noch in Frage stehenden, Vermutung entsteht, ist das ein Kennzeichen für einen verpassten, einen unbemerkten, Widerspruch. Vielleicht ist solche Verwendung auch unzertrennlich mit diesem Paradoxon verbunden, womit diese Frage hinfällig erscheinen könnte. Anderseits könnte sie verbunden sein mit der Frage "Was kann ich aus diesem Paradoxon lernen, worauf muss ich aufpassen, um solche Fehler zu vermeiden?"