Meine Analyse

Obwohl in der Formulierung das Paradoxon vom Anwalt kommt, werde ich im Weiteren von den Überlegungen bzw. von der Logik des Gefangenen sprechen, weil der Anwalt - und auch wir - die Schlussfolgerungen nur im Namen des Gefangenen durchführen können.

Die Logik des Paradoxons bringt uns dazu, immer wieder über einen einzigen Tag entscheiden zu müssen. Für jeden dieser Tage wird uns der Widerspruch vorgeführt und damit die Urteilvollstreckung an diesem Tag widerlegt. Ich möchte nun die logischen Folgerungen des Gefangenen für einen einzelnen Tag unter die Lupe nehmen.

Fehler des Gefangenen

Demgemäß konzentrieren wir uns auf einen Tag. Die weiteren Tage sind schon - recht oder schlecht - ausgeschlossen, es kann aber auch der letzte Tag der Woche sein, auf die sich das Urteil bezieht. Als Nächstes nehmen wir an, dass der Gefangene die Tage davor überlebt hat. Somit bleibt nur ein Tag, an dem das Urteil vollstreckt werden kann. Bei diesen Bedingungen erhält das Urteil für den Gefangenen die folgende Form:

        A).  Morgen werden Sie hingerichtet.
        B).  Aber heute wissen Sie es nicht.

(Wird weiter in diesem Text vom Urteil gesprochen, ist immer diese an einem Tag angepasste Form gemeint.) Im Paradoxon findet man dazu folgende Überlegungen des Gefangenen:

  1. Laut dem Teil A des Urteils findet die Hinrichtung morgen statt - daher weiß ich es.
  2. Jedoch widerspricht solches Wissen dem Teil B des Urteils.
  3. Also muss die Hinrichtung am bevorstehenden Tag ausgeschlossen werden.

Hier macht sich folgende Inkonsequenz bemerkbar:
Im Satz 1 wird das Wissen verkündet, aber im Satz 3 wird dieses Wissen widerlegt, als wäre es nur eine Annahme. Eine Annahme ist jedoch noch kein Wissen und würde deshalb dem Teil B des Urteils nicht widersprechen. Und ein Wissen kann nicht widerlegt werden, sonst wäre es noch kein echtes Wissen.

Eine genauere Analyse ergibt Folgendes:
Der Gefangene behandelt erst das Teil A des Urteils, danach das Teil B, kommt zu dem Widerspruch und meint, mit dem Teil B das Teil A widerlegt zu haben. Diese Folgerung enthält jedoch mehrere logische Fehler:

  • Das Urteil besteht aus 2 logisch gleichwertigen Aussagen. Aus einem Widerspruch kann nicht abgeleitet werden, dass ein Teil des Urteils falsch ist, sondern höchstens, dass das Urteil insgesamt widersprüchlich ist.
  • Das Teil B widerspricht nicht dem Teil A, sondern der Aussage des Gefangenen, dass er zum Wissen gekommen ist. Es ist noch kein eindeutiges Argument gegen das Teil A des Urteils.
  • Der Gefangene hat seine Folgerung auf dem Teil A des Urteils gegründet. Sollte das Teil A widerlegt sein, ist auch seine Folgerung falsch - samt dem Schluss, dass das Teil A widerlegt ist.
Der Satz 3 ist also unbegründet. Schwieriger wird es jedoch mit einer Erklärung des Widerspruches, der in diesem Paradoxon erstellt wurde. Ich möchte hier drei Deutungen anbieten, in einer Reihenfolge, in der ich zu ihnen gekommen bin. Gleichzeitig ist es der Weg vom Komplizierten zum Einfachen.

Deutung 1:  Urteil ist widersprüchlich

Der Widerspruch wurde allein aus dem Urteil abgeleitet, folglich ist das Urteil widersprüchlich. Dann wäre für den Gefangenen das einzig Richtige die Erkenntnis aufzubringen, dass er aus einem widersprüchlichen Urteil kein Wissen gewinnen kann.

Hier würde jedoch eine interessante logische Konstellation entstehen: Nach seinem Geständnis "Ich kann zu keinem Wissen kommen" wäre das Urteil wieder widerspruchsfrei - genau das ist ja die Behauptung des Urteils. Also folgt aus der These  "das Urteil ist widersprüchlich"  durch  "kein Wissen ist möglich"  der Schluss  "das Urteil ist widerspruchsfrei" . Diesen Zusammenhang werde ich weiter als "kleines Paradoxon" bezeichnen. Im Unterschied zum ursprünglichen Paradoxon möchte ich es nicht als Zeichen eines Fehlers ansehen. Erstmal gründet sich das "kleine Paradoxon" auf der speziellen Aussage, die dem Gefangenen das Wissen abspricht - sie widerlegt damit im Voraus jedes Analyse-Ergebnis, welches zu solchem Wissen führt. Wer das nicht erkennt und trotzdem zu analysieren versucht, muss scheitern, und das "kleine Paradoxon" ist lediglich die Form, in der sich dieses Scheitern äußert. Ein anderer Grund, aus dem "kleinen Paradoxon" kein großes Problem zu machen, besteht darin, dass man ähnliche Konstellationen auch woanders finden kann, s. Anhang 2.

Deutung 2:  Falsche Annahme

Allgemein gilt es, wenn eine logische Kette zum Widerspruch führt, sind die Annahmen falsch. Es gab eine Annahme, die unter diese Regel fallen könnte:
Damit wir uns auf einen Tag konzentrieren konnten, wurde angenommen, dass der Gefangene die Tage davor überlebt hat.

Dementsprechend könnte der Gefangene nach der Entdeckung des Widerspruches schließen, dass diese Annahme falsch war. Weil der Widersprich zum ersten Mal bei den Betrachtung des 7. Tages vorkommt, wurde es bedeuten, dass der Gefangene nicht bis zum 7. Tag überleben dürfte.
Zusätzliche Rechtfertigung für diesen Schluss liefert der Anhang 2.

Dieser Schluss darf jedoch nicht mit dem Schluss gleich gesetzt werden, er kann nicht am 7. Tage hingerichtet werden - wegen des Widerspruches kann der Gefangene das nicht wissen. Und ohne diesen Schluss ist der Aufbau des Paradoxons nicht möglich - also wäre eine nochmalige Anwendung der oben erwähnten Regel nicht notwendig.

Deutung 3:  Kein Widerspruch

Wir haben gesehen, dass der Gefangene in seiner Folgerung das Wissen, das er im Satz 1 verkündet hat, im Satz 3 wieder aufgeben muss. In unserer "Deutung 1" wird das Wissen verneint, weil aus einem Widerspruch kein Wissen zu gewinnen ist. Beiden Folgerungen ist gemeinsam, dass das Wissen nicht möglich ist. Wir können also versuchen den Standpunkt einzunehmen, den man mit zwei gleichbedeutenden Sätzen beschreiben kann:

Das Wissen ist nicht mit dem Urteil vereinbar. Das Teil 2 des Urteils ist kompatibel zum Teil 1.

Aus diesem Standpunkt wäre der Satz 1 des Gefangenen, wo er sein Wissen behauptet, lediglich eine Annahme, die nur deswegen zustande kommt, weil er das Urteil noch nicht vollständig realisiert hat. Weil diese Annahme dem weiteren Teil des Urteils widerspricht, soll sie aufgegeben werden. Diese Annahme ist hier nur ein temporäres Produkt seiner bzw. unserer Vorstellungskraft. Auf einen Widerspruch dieser Art stoßt der Leser eines Krimis, wenn die endgültige Erklärung nicht in sein Bild passt und er zurückblättert und feststellt, dass sein Bild falsch war - es ist also nur ein imaginärer Widerspruch.

Einen neuen Akzent kann den schon aufgeführten Argumenten das "kleine Paradoxon" verleihen. Wir lesen es noch mal durch: Wenn wir aus einem Widerspruch ausgehen - eine Annahme, die nicht dem neuen Standpunkt entspricht -, können wir kein Wissen erlangen, dadurch wird wiederum der Widerspruch behoben - was schon völlig dem neuen Standpunkt entspricht. Es scheint so, als ob das "kleine Paradoxon" unserer neuen Lösung eine gewisse Stabilität zuspricht: Auch wenn wir von anderen Ansätzen ausgehen, kommen wir trotzdem zu ihr zurück.

Ich möchte jedoch glauben, dass die Frage, ob beide Teile des Urteils einander widersprüchlich oder zueinander kompatibel sind, nicht mit logischen Mitteln entschieden werden kann. Einer der Gründe ist wohl, dass ein Urteil ohne Widerspruch meine anderen Folgerungen sinnlos machen würde oder mindestens zu bloßen Hilfsmitteln verwandeln würde, die diesen neuen Standpunkt untermauern. Das wäre schade.

Abschluss

Ich möchte zum Schluss noch auf die Frage eingehen, warum wir so leicht diese (fehlerhafte) Logik akzeptieren. Ich kann folgende Erklärung anbieten: Wir empfinden die Aussagen des Richters in erster Linie als Urteil. Das hat seinen Grund - das Teil B betrifft uns nicht, sondern nur den Gefangenen. Daher ist für uns klar: Wäre der Gefangene noch am Freitagabend am Leben, würde die Hinrichtung am Samstag stattfinden. Und da wir das wissen, glauben wir auch dem Gefangenen, wenn er sagt, er würde es wissen. Doch er kann es nicht wissen - laut Urteil.

Fazit:
Der Gefangene leitet aus dem Urteil einen Widerspruch ab. Es wären 3 Deutungen dieses Widerspruches möglich:
- Das Urteil ist widersprüchlich und der Gefangene kann deswegen zu keinem Wissen kommen.
- Der Widerspruch widerlegt die Annahme, dass der Gefangene den 6. Tag der Urteilswoche überleben kann.
- Es ist ein imaginärer Widerspruch, weil das Wissen im jeden Fall ausgeschlossen ist.
Der Gefangene schließt jedoch, dass ein Teil des Urteils falsch ist. Der Schluss ist unzulässig - unter anderem weil der Gefangene auf diesem Teil des Urteils seine Folgerung aufgebaut hat.

Anhang 1.  Der letzte Tag

Am Freitagabend hat der Gefangene eine Möglichkeit, das Tabu des Urteils zu umgehen. Er könnte sich wie folgt überlegen: "Gut, aus diesem Urteil kann ich kein Wissen gewinnen. Jedoch ist es für den Richter eine Ehrensache, dass jedes seiner Urteile genau erfüllt wird. Jetzt bleibt ihm nur noch eine Möglichkeit, zu diesem Ziel zu kommen: Mit der Zuversicht, dass ich es aus dem Urteil nicht wissen kann, mich morgen hinrichten zu lassen." Damit käme er zum Wissen, was ihm dem Urteil zufolge untersagt wurde.

Ob das auf solchem Wege erlangene Wissen dem Gefangenen helfen könnte, ist fraglich, aber sein Anwalt könnte vielleicht danach mit diesen Argumenten dem Richter einen Karriereknick verpassen. Also sollte der Richter lieber nicht bis zum letzten Tag warten. Mit 2 Tagen wäre er schon auf der sicheren Seite, wie hier gezeigt wurde. Unsere Analyse ist hiervon nicht betroffen, weil sich diese Überlegungen außerhalb der Rahmen der Logik und des Urteils bewegen.

Ich glaube, die hier beschriebene Möglichkeit gibt uns auch eine zusätzliche Erklärung dafür, warum wir den ersten Schritt im Paradoxon so leicht akzeptieren: Wahrscheinlich ist uns aufgrund einer allgemeinen Auffassung der Situation intuitiv bewusst, dass der Richter nicht bis zum Samstag warten darf.

Anhang 2.  Das "kleine Paradoxon" in anderen Formen

Hier möchte ich zeigen, dass der oben als kleines Paradoxon bezeichnete Zusammenhang keine einmalige Besonderheit des "Paradoxons der unerwarteten Hinrichtung" ist. Ich muss jedoch darauf hinweisen, dass dieser Anhang nur ziemlich indirekt mit dem Paradoxon verbunden ist und vielleicht deshalb beim ersten Lesen übersprungen werden sollte.

Als Erstes möchte ich den Leser an ein bekanntes Rätsel erinnern:

Jetzt möchte ich mich fragen: Wie sieht seine Aussage nach seiner Freilassung aus? Es ist klar - sie ist falsch, er wurde ja nicht gekocht. Das ist jedoch kein zwingendes Ergebnis, er hätte sagen können - "Ihr werdet mich nicht braten" - und nach seiner Freilassung würde es eine wahre Aussage sein. Für uns ist Folgendes wichtig: Das Paradoxon besteht für die Kannibalen nur so lange bis sie nicht aufgeben. Danach kann die Aussage des Mannes auch von den Kannibalen eindeutig bewertet werden. Also haben wir im Wesentlichen dieselbe Konstellation, wie im "kleinen Paradoxon": Der Gefangene kann das Urteil nicht bewerten, weil es widersprüchlich ist - er gibt auf - das Urteil wird damit widerspruchsfrei.

Es bietet sich die folgende Ansicht an: Eine solche Konstellation entsteht aus den paradoxen Aussagen, die eine künftige Entscheidung des Angesprochenen einbeziehen. Gibt der Betroffene auf, entfällt der auf ihn gerichtete Widerspruch. Folglich kann die Aussage eindeutig - als wahr oder falsch - bewertet werden. Wendet man dieses Schema zum Beispiel an das Paradoxon des Lügners an, kommt man zur folgenden Aussage: "Sie werden diesen Satz als falsch bewerten." Sie können den Satz nicht bewerten, sie müssen aufgeben, danach ist der Satz falsch. Eine andere Variante dieser Aussage - "Sie werden diesen Satz nicht als wahr bewerten können" - würde dagegen am Ende die Wertung "wahr" erhalten.

Im Unterschied zu den Zielpersonen in diesen Beispielen wird der Gefangene nicht aufgefordert, ein Paradoxon zu lösen. Er könnte das Urteil einfach so annehmen, wie es ausgesprochen wurde und somit dem Paradoxon ausweichen. Nur das Nicht-Denken wäre für ihn wohl schwierig.