Das Paradoxon mit den Kisten

Mit dem entdeckten Fehler ist der Entstehensgrund des Paradoxons noch nicht endgültig geklärt. Der oben besprochene "Widerspruch des letzten Tages" ist keine substanzielle Eigenschaft des Paradoxons, es existiert eine Variante dessen, in der dieser Widerspruch nicht entsteht. Die Analyse dieser Variante wird uns dazu verhelfen, einen anderen Fehler in den Schlussfolgerungen des Paradoxons zu finden, der allen Varianten eigen ist.

In der nachfolgenden Beschreibung treten als handelnde Personen der R. und der G. auf, mit der Andeutung auf den Richter und den Gefangenen aus dem Urteil-Paradoxon.

Also, es gibt einige nummerierten Kisten. In einer von ihnen versteckt R. heimlich von G. einen Ball und sagt danach zu G.: "Du wirst im Voraus nicht wissen, dass der Ball in der Kiste liegt, bevor Du sie nicht geöffnet hast". Dann öffnet G. die Kisten in der Folge ihrer Nummerierung. Dass der Ball in einer der Kisten liegt, ist unabhängig von der Aussage von R. gewährleistet. Man könnte z.B. alle Kisten auf eine Waage stellen, oder sie in einem leeren Raum aufstellen, wo der Ball nirgendwo sonst zu verstecken wäre.

Im Unterschied zum Urteil-Paradoxon, der auf zwei mit einer Konjunktion verbundenen Aussagen gründet, basiert die Variante mit den Kisten auf einer einfachen Aussage und kann deshalb keinen inneren Widerspruch enthalten.

Wie entwickelt sich das Paradoxon auf dieser Basis? Wir beschränken uns auf zwei Kisten, die wir mit X1 und X2 bezeichnen. Der Kürze halber werde ich die von R. ausgesprochene Bedingung mit dem Symbol U bezeichnen. G. urteilt: "Hätte R. den Ball in X2 gelegt, wurde ich es wissen, nachdem ich X1 leer gefunden hatte. Weil solches Wissen der Aussage U widersprechen wurde, kann der Ball nicht in X2 liegen. Also weiß ich, dass er in X1 liegt." Hier unterbrechen wir ihn und betrachten die entstehenden Varianten. Nicht allzu gründlicher G. kann sich damit zufrieden geben - diese Variante betrachten wir im nächsten Abschnitt. Ein konsequenter G. wird bemerken, dass sein Wissen "der Ball liegt in X1" wiederum U widerspricht. Da der Ball bestimmt in einer der Kisten liegt, kann er auf den Gedanken kommen, dass er damit die Falschheit von U bewiesen hat. Aber auch dieser Schluss wurde das Problem nicht lösen: Wäre U falsch, dürfte G. gar nicht versuchen, aus U ein Wissen abzuleiten. Und wenn er zu keinem Wissen kommen kann, erweist sich U als wahr. So kann der Widerspruch in der Schlussfolgerung von G. nur noch mit einem Fehler erklärt werden.

Aber worin besteht dieser Fehler? Zunächst versuchen wir die Stelle zu lokalisieren. Wir zerlegen die Schlussfolgerung von G. zu einzelnen Punkten:
1. Wenn der Ball in X2 liegt, so würde ich es nach X1 wissen.
2. Dann wäre U falsch.
3. Also liegt der Ball nicht in X2.
4. Nicht in X2 bedeutet, dass er in X1 liegt.

Der Punkt 1 ist bedingungslos richtig, unabhängig von U. Der Übergang von 1 zu 2 ist richtig. Der Übergänge vom Punkt 3 zu 4 ist tadellos. Als Kandidat für einen Fehler bleibt nur der Übergang vom Punkt 2 zum Punkt 3. Die Fehlerhaftigkeit dieses Übergangs würde Folgendes bedeuten: Obwohl sich die Aussage von R. als falsch erwiesen wird, wenn er den Ball in die letzte Kiste legt, kann G. ausgehend davon nicht wissen, dass R. es nicht macht.

Man kann zum selben Schluss auch auf einem anderen Weg kommen. Nehmen wir an, in der Situation mit mehreren Kisten erklärt G. dem R. im Voraus, dass er unbedingt verlieren wird, wenn er den Ball in die letzte Kiste legt. Deshalb möchte er zulassen, die letzte Kiste schon im Voraus zu entfernen. Aber R. stimmt natürlich nicht zu. Das zeigt wieder, dass die Argumente 1 und 2 für die Schlussfolgerung 3 nicht ausreichen.

In diesen Schlussfolgerungen kann man einen Hinweis erkennen, dass im Paradoxon implizit eine gewisse Kooperation seitens R. vermutet wird. Wahrscheinlich sollte dagegen eine korrekte Schlussfolgerung viel besser die Möglichkeit der eigenständigen Handlungen seitens R. berücksichtigen.


Mehrfaches Wissen

Hier betrachten wir, wie schon oben gesagt wurde, die Variante, wo G., zum " Wissen" gekommen, dass der Ball in X1 liegt, sich nicht in weitere Fragen verwickeln lässt. Also, unser G. erklärt: "Ich weiß - der Ball liegt in der ersten Kiste." Er öffnet sie, aber sie ist leer, der Ball befindet sich in X2. Danach sagt G. zu R., dass er schon im Voraus wusste, dass der Ball in X2 liegt, noch bevor er sie geöffnet hat, so dass die Behauptung U falsch war. Und er wusste es tatsächlich. Aber müssen wir ihn zustimmen, dass U sich als falsch erwiesen hat?

Wenn wir ihm Recht geben, würden wir dadurch ein "mehrfaches Wissen" zulassen. Was ist damit gemeint? Wenn der Ball in X1 wäre, wie G. erklärt hat, hätte er Recht gehabt. Aber auch jetzt, wo sich seine Erklärung nicht bestätigt hat, behauptet er sein Wissen. Wenn wir ihn erlauben, vor jeder Kiste zu erklären: "Ich weiß, dass der Ball in dieser Kiste liegt", so wird er immer sein Sieg beanspruchen können. Bei solcher erweiterten Deutung des Wissens wurden sich alle Überlegungen des Paradoxons als rechtmäßig erweisen, aber ihr Ergebnis - "U ist falsch" - wäre vorausbestimmt.

Um derartige Trivialität zu vermeiden, ist es offensichtlich notwendig, für die möglichen Deutungen des Begriffs "Wissen" Grenzen zu setzen. Wie kann das gemacht werden? Eine Bedingung "Wissen darf man nur einmal" reicht nicht aus - G. kann mit einer Wahrscheinlichkeit ab 0,5 die Antwort erraten. Gut überlegt können wir eine folgende Bedingung formulieren: G. soll sein "Wissen" vor einer unabhängigen Jury rechtfertigen, die entscheiden wird, ob es wirklich Wissen oder nur eine Vermutung ist.

Es ist leicht einzusehen, dass unter solcher Bedingung G. schon bei 2 Kisten keine Chancen hat. In der Tat, die logische Begründung für eine bestimmte Kiste kann sich von einem Experiment zum anderen nicht ändern und kann auch kein Geheimnis für R. bleiben. Und R. könnte mit Leichtigkeit jede dieser Varianten widerlegen, indem er den Ball einfach in die andere Kiste legt. Es bedeutet, dass solche logische Begründung nicht existieren kann.

Es ist ein bemerkenswertes Ergebnis, aber ob es uns der Lösung näher bringt? Die Formulierung des Paradoxons erfordert doch von G. keine offenbare Aussage, es reicht schon ein "inneres" Wissen, und nachdem er den Ball in der ersten Kiste nicht gefunden hat, wusste er in der Tat, dass der Ball in der zweiten Kiste liegt. Dazu möchte ich nur sagen, dass wir etwas später herausfinden werden, wie die Idee der Jury verwendet werden kann.

Die Idee des "vielfachen Wissens" erlaubt uns noch einen Aspekt des Problems zu erkennen. Wir haben schon oben bemerkt, dass die Überlegungen des Paradoxons auch bei solcher verzerrten Vorstellung vom Wissen gültig bleiben. Die logischen Übergänge, die wir im vorhergehenden Punkt analysiert haben, sind wie für das wahrhafte Wissen, als auch für seine "mehrfache" Version gleichmäßig ausführbar. Das bedeutet, dass die Filter der logischen Prüfungen viel zu grob sind, dass es ihnen an der Selektivität im Bezug auf den Begriff des Wissens mangelt.


Die allgemeine Lösung (die Widerlegung) des Paradoxons

Zunächst will ich erinnern, dass wir den Schritt des Paradoxons betrachten, der in gleicher Maße aller seiner Versionen eigen ist, und zwar den Übergang von einer Kiste oder einem Tag zum Vorhergehenden. Dementsprechend ist auch die unten angebotene Lösung eine allgemeine Lösung, die nur für die Kürze in den Termini des Balles und der Kisten aufgezeichnet ist.

Ich führe eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse unserer bisherigen Analyse auf:
1. Obwohl sich die Aussage R. falsch erweisen wird, wenn er den Ball in die letzte Kiste legt, kann G. offensichtlich davon ausgehend nicht wissen, dass R. es nicht machen wird.
2. In der Überlegung G. wird unzureichend die Möglichkeit der eigenständigen Handlungen seitens R. berücksichtigt.
3. Die Überlegung G. ist zu anspruchslos zum Verständnis vom Wissen.

Jetzt gehen wir von der Analyse der falschen Schlussfolgerung von S zur Synthese einer korrekten Schlussfolgerung über. Die erstellen wir mit der Einbeziehung der Ergebnisse aus dem vorhergehenden Punkt. Dort sind wir auf die Idee einer Jury gekommen, die die Argumenten des G. bewerten sollte. Es existiert eine Möglichkeit, die Funktion der Jury dem G. zu übergeben. Dazu muss man nur bemerken, dass G. selbst eine logisch richtige Analyse braucht, weil eine falsche Analyse ihm kein Wissen verschaffen kann. Unser andere Ausgangspunkt: Wenn es solche logisch richtige Analyse gibt, so kann sie auch von R. reproduziert werden, da die Ausgangsdaten keine Geheimnisse beinhalten.

Also, wir betrachten wieder die Variante mit 2 Kisten. Unter Berücksichtigung beider Voraussetzungen urteilt G.:
"Wenn der Ball in X2 liegt, so wurde ich nach dem Öffnen der X1 es wissen, aber solches Wissen widerspricht der Aussage U. Kann ich daraus folgen, dass der Ball in X2 nicht liegen kann? Nehmen wir an, dass ich es kann. Das bedeutet, dass dieser Schluss ein Teil einer logisch korrekten Analyse wäre. Jedoch könnte auch R. meine Analyse reproduzieren, wenn sie richtig wäre. Daher wurde R. wissen, dass ich zu dem Schluss gekommen bin, dass der Ball nicht in X2 liegen kann. Aber dann könnte R. mit Leichtigkeit diesen Schluss widerlegen, indem er den Ball in X2 legt."

Ausgehend von der Annahme, dass "der Ball nicht in X2 sein kann" richtig ist, kommt G. zum Widerspruch. Somit ist bewiesen, dass G. die Variante "der Ball liegt in X2" nicht ausschließen kann.

Möglicherweise wird hier eine zusätzliche Erklärung benötigt. Unsere Analyse bedeutet nicht, dass R. den Ball in Wirklichkeit in X2 legen soll. G. hat nur ein Denkexperiment für die Prüfung eines logischen Schrittes durchgeführt. Dieses Denkexperiment kann auf die Handlung R. kein Einfluss haben. Für R. ist es klar, dass die Analyse G. mit nichts enden wird, weil jedes "ich weiß, dass der Ball in Xn liegt" der Ausgangsaussage widerspricht. Deshalb legt R. den Ball in X1, womit er dem G. die letzte Chance entzieht, die mit dem "unbedingten" Wissen verbunden ist, dass im Falle "der Ball in der letzten Kiste" entsteht.

Um den Zusammenhang zwischen der oben aufgeführten Analyse und der Idee des "mehrfachen" Wissens herzustellen, müsste man zum Denkexperiment von G. zurückkehren und das unmögliche zulassen, nämlich, dass G. zum "Wissen" gekommen wäre, dass der Ball sich in X1 befindet, und R. es voraussah und den Ball in X2 gelegt hätte. Dann würde G. nach X1 wirklich im Voraus wissen, dass der Ball in X2 liegt, aber es würde schon ein "wiederholtes" Wissen sein, das nur infolge des vorhergehenden Fehlers zustande kommen könnte. Gerade die Idee der Verhinderung solcher Situation des "mehrfachen" Wissens wurde der oben angeführten Überlegung zugrunde gelegt.

Es könnte stimmen, dass ein direkter Hinweis auf den Fehler wünschenswerter wäre, als ein Beweis "reductio ad absurdum". Aber die Widerlegung des Paradoxons ist auch mit der Handlungsfreiheit von R. eng verbunden, und eine Möglichkeit in ein logisches Argument umwandeln kann man wohl nur mit einem Beweis "reductio ad absurdum".

Also, wir haben den Fehler gefunden, der allen Varianten des Paradoxons inhärent ist, und zwar: Bei der Abweisung jedes nächsten "letzten" Tages oder jeder nächsten "letzten" Kiste wird die Forderung nach der Einmaligkeit des Wissens nicht beachtet. Die vorige Erklärung des Urteil-Paradoxons, die im 1. Lösungstext gegeben wurde, kann jetzt als seine spezielle Lösung betrachtet werden oder sogar als eine Irreführung, die wegen der weniger geeigneter Formulierung dieses Paradoxons entstanden ist.