Der erste Fehler des Gefangenen

Im Paradoxon wird mehrmals der letzte mögliche Tag der Hinrichtung abgelehnt. Nach jedem solchen Schritt wird der vorhergehende Tag zum letzten Tag, zu dem dann derselbe Trick verwendet wird. Betrachten wir bis ins Einzelne die dabei verwendete Argumentation.

Also, wir nehmen an, dass die nachfolgenden Tage, außer den morgigen, schon ausgeschlossen sind oder es sie nicht gibt, weil morgen der letzte Tag des Urteils ist. Für den Gefangenen wird das Urteil in Bezug auf einem Tag so gelesen:
a) Morgen werden Sie hingerichtet. b) Aber heute wissen Sie es nicht.

Der Gefangene urteilt darüber wie folgt:

  1. Laut dem Teil a) des Urteils findet die Hinrichtung morgen statt, also weiß ich es.
  2. Jedoch widerspricht solches Wissen dem Teil b) des Urteils.
  3. Also widerspricht <die Hinrichtung morgen> dem Urteil und ist deshalb unmöglich.

Schon ein flüchtiger Blick genügt, um eine Anomalie zu bemerken: Im Satz 1 wird das Wissen einer Tatsache "X" erklärt, aber im Satz 3 wird es durch Wissen der Tatsache "nicht-X" ersetzt. Solcher Übergang wäre in einem Beweis "reductio ad absurdum" durchaus passend, aber im derartigen Beweis geht man nicht aus einem "Wissen" aus, sondern aus einer Annahme, die dann widerlegt wird. Hier wollen wir den Satz 1 für ein Wissen halten, weil sich sonst kein Widerspruch mit dem Teil b) des Urteils ergibt, aber gleichzeitig behandeln wir ihn wie eine Annahme und glauben ihn im Endeffekt widerlegt zu haben.

Bei einem gründlichen Einblick kann man folgendes bemerken:
Der Gefangene verwendet zunächst den Teil a) des Urteils, dann den Teil b), entdeckt den Widerspruch und kommt zum Schluss, dass er den Teil a) mit Hilfe des Teiles b) widerlegt hat. Aber das Ergebnis ist inkorrekt. Er hat seine Schlussfolgerung auf dem Teil a) des Urteils gegründet. Aber wenn der Teil a) widerlegt ist, so ist die auf seiner Grundlage aufgebaute Schlussfolgerung auch widerlegt. Das heißt, er hat den Boden seiner logischen Konstruktion zerstört.

Und der Fehler besteht in seinem Umgang mit einer widersprüchlichen Aussage. Das Urteil besteht aus 2 logisch gleichwertigen Teilen. Aus dem Widerspruch darf man nicht folgern, dass einer der Teile des Urteils falsch ist, man kann nur den Schluss ziehen, dass das Urteil insgesamt widersprüchlich ist.


Das eingebettete Paradoxon

Da man zu dem Widerspruch einzig und allein aus dem Urteil kommt, ohne andere Tatsachen oder Aussagen heranzuziehen, so ist die Schlussfolgerung unvermeidbar, dass das Urteil widersprüchlich ist. Die Frage ist nur, ob diese innere Widersprüchlichkeit des Urteils für seine Aufhebung genügt. Man muss leider die Antwort geben: nein, sie genügt nicht. In der Tat, ist das Urteil widersprüchlich, so kann der Gefangene aus ihm keine Schlussfolgerungen ziehen. Das heißt, auch vom Tag der Hinrichtung kann er nichts wissen. Und da gerade dies im Teil b) des Urteils behauptet wird, wird dieser Teil b) zum richtigen, und dadurch verschwindet seltsamerweise der Widerspruch im Urteil. Und wenn morgen die Hinrichtung stattfindet, dann wären alle Bedingungen des Urteils erfüllt.

Aus der Widersprüchlichkeit des Urteils folgt seine Widerspruchslosigkeit. Wieder ein Paradoxon? In der Tat, ich will zeigen, dass die Aussage "Morgen wird etwas geschehen, aber heute weißt Du es nicht" ein Paradoxon ist – ein Paradoxon im Sinne, dass auf die Frage über seine Widersprüchlichkeit keine eindeutige Antwort möglich ist, die Aussage ist gleichzeitig widersprüchlich und widerspruchsfrei.

Die Widersprüchlichkeit dieser Aussage besteht darin, dass der Teil 1 der Aussage ein Wissen mitteilt, der Teil 2 verneint dieses Wissen, also wenn der Teil 1 wahrhaft ist, kann der Teil 2 nicht wahrhaft sein. Jedoch darf man aus einer widersprüchlichen Aussage keine Schlussfolgerungen ziehen und so kann man auch aus dieser Aussage zu keinem Wissen kommen. Hieraus folgt, dass der Teil 2 der Aussage, der gerade diese Unwissenheit behauptet, wahrhaft ist unabhängig von der Wahrhaftigkeit des Teils 1. Es gibt keine Widersprüche mehr.

Den Grund des gegebenen Paradoxons kann man in einem Selbstbezug finden: unsere Aussage enthält als Teil 2 eine Folge aus eigener Widersprüchlichkeit. Oder man kann bemerken, dass die Widersprüchlichkeit eine Aussage der Metaebene ist. Dann muss auch der Schluss über die Unwissenheit, als Folge der Widersprüchlichkeit, der Metaebene gehören. Aber gleichzeitig ist die Aussage über der Unwissenheit auch in der Ausgangsaussage enthalten, wo sie ihr Teil bildet.

Fazit:
Der Gefangene aus dem Paradoxon kommt zu einem falschen Ergebnis infolge seiner willkürlichen Vorgehensweise mit einer widersprüchlichen Aussage. Eine korrekte Überlegung ergibt folgendes:
Er steht vor einem widersprüchlichen Urteil, das ihm nicht zulässt, zu irgendwelchem Wissen zu kommen. Durch seine Unwissenheit wird der Widerspruch behoben, und das Urteil kann vollstreckt werden.